Schlendert man durch diverse deutsche Foren im Internet, stolpert man oft über die Frage „Wann bekommt Deutschland neue „Aljonas“, „Robins“ oder „Brunos“?“…
Wie man aber mit dem Nachwuchs arbeitet, was hinter dieser akribischen Suche nach Talenten steht, weiß kaum jemand. Denn die Chance, ein außergewöhnliches eiskunstlaufaffines Kind zu finden, ist genauso gering, wie ein Körnchen Gold im Sand zu entdecken. Heute, am Rande der Nebelhorn-Trophy spreche ich darüber mit dem ehemaligen Paarläufer und dem heutigen Bundestrainer Rico Rex, der u. a. für die Arbeit mit dem Nachwuchs (speziell für Paarlauf) in der deutschen Eislaufunion zuständig ist.
Rico, wie sieht die Situation für den Nachwuchs in Deutschland aus?
Es sieht allgemein, nicht nur in Deutschland, nicht gut aus, würde ich sagen. Uns fehlt der Nachwuchs in der Breite. Ich bin speziell für Paarlaufnachwuchs zuständig und das Hauptproblem besteht darin, dass uns die Jungs fehlen! In ganz Deutschland gibt es relativ wenig Jungen, die sich für Eiskunstlauf interessieren. Man hört oft, wenn man nicht springen kann, wechselt man vielleicht zum Eistanz, aber im Paarlauf muss man auch sehr gut springen können und die Körpergröße eines Jungen sollte über 1,80 sein. Es ist nicht einfach, dieses Problem zu lösen, aber wir versuchen das Beste aus der Situation zu machen.
Womit ist es verbunden, dass die Jungen so eine „Mangelware“ sind? Fehlt ihnen das Interesse für diese Sportart?
Ich kann es an dem Beispiel von Berlin erklären, dort haben wir einen relativ guten Nachwuchsanteil, wenn Kinder angemeldet werden. Wir haben eine Sportschule, die den Eiskunstlauf schon ab der 1. Schulklasse anbietet. Die Kinder können parallel in der Schule lernen und Eiskunstlauf trainieren. Wenn die Kinder angemeldet werden, wird
deutlich, dass auf zehn Mädchen maximal ein Junge kommt. So ist der Schnitt. Auf ganz Deutschland bezogen, sieht es ähnlich aus. Bemerkenswert ist, dass die meisten Kinder aus russischsprachigen Familien stammen.
Ja, Eiskunstlauf ist in Russland sehr populär.
Genau, die Russen haben auch ein ganz anderes Bewusstsein für diese Sportart als wir hier in Deutschland.
Wo kann man interessierte Kinder noch finden?
Es gibt verschiedene Kita Projekte, in Vereinen fängt man früh mit Sichtungen an. Spätestens mit 5 – 6 Jahren müssen wir mit der Ausbildung beginnen, sonst wird es schwieriger, harter Weg. Wir gehen auch direkt in die Kitas, sprechen Eltern an, erläutern unsere Projekte, um die Kinder für Eiskunstlaufen zu begeistern. Manchmal entsteht daraus etwas, aber die Vereine müssen sich auch noch mehr engagieren. Was derzeit bei uns ankommt, ist einfach zu wenig. Das muss man leider so sagen. Nicht jedes Kind, das bei uns angemeldet wird und Eiskunstlaufen lernen möchte, ist für den Eiskunstlauf überhaupt geeignet. Da muss man schon viel Talent mitbringen oder alternative Talente haben, die wir dann gemeinsam entwickeln können.
Was passiert, wenn ein Kind zu einem Try-Out-Projekt oder zu einem Probetraining kommt und ihr bemerkt, dass aus diesem Kind etwas werden könnte?
Da schlüpfe ich mal kurz in meine Rolle, denn es ist nämlich meine Aufgabe, dass ich Ausschau halte und entscheide, wer sich für Paarlauf eignen könnte. Wenn ich so ein Kind sehe, muss ich einen Weg finden, dass wir dieses Kind für uns gewinnen. Ich muss noch dazu sagen, dass wir in Deutschland relativ wenig Orte haben, wo Paarlaufen überhaupt stattfindet. Das hängt damit zusammen, dass wir generell sehr wenig Trainer haben, die das Paarlauftrainings anbieten, Trainer, die selbst diese Erfahrung mitbringen und sie mit den jungen Sportlern teilen können. Und wenn man es letzten Endes irgendwie geschafft hat, ein junges neues Paar zusammenzustellen… entsteht ein weiteres Problem, Eiszeiten zu bekommen, um überhaupt trainieren zu können. Es ist nicht so einfach, wie man es sich wünscht, aber es geht – Schritt für Schritt …
Kommt mir wirklich wie eine Schatzsuche vor… Gibt es die Option, talentierte Kinder aus anderen Ländern zu holen?
Wir bekommen relativ oft Anfragen von russischen Mädchen, von den Jungen eher nicht. Es sind meistens nur die Mädchen, die ein tieferes Interesse haben. Wir, ich spreche jetzt von Berlin, organisieren auch sogenannte Try-Outs – so kann man sofort sehen, passt es oder passt es nicht. Ein Mädchen muss in der Tat super-super gut laufen, damit man überhaupt das Risiko eingeht, es nach Deutschland zu holen – in der Hoffnung, dass es in ein paar Jahren mit einem Jungen läuft und zu einem guten Paar zusammenwächst.
Aber wenn man nicht Mädchen, sondern Jungen aus anderen Ländern holt?
Dieses Problem mit den fehlenden Jungen besteht überall in Europa, nicht nur in Deutschland. Aber wir sind im Paarlauf alle gut vernetzt, wir haben auch einen regen Austausch. Wir hatten jetzt z. B. in so einem Try-Out-Training einen spanischen Jungen dabei, er war relativ klein und sprang rechtsrum, da haben wir fast einen Monat lang versucht, ein Mädchen zu finden, das auch rechtsrum springt. Also die Connection ist da, man kennt sich, man hilft sich gegenseitig, aber es ist mühsam …
Welche Rolle spielen dabei die Shows wie „Disney on Ice“ oder „Holiday on Ice“?
Alles, was mit Eiskunstlaufen zu tun hat, ist super. Alles, was mit der Begeisterung zu tun hat, ist super! Alle Shows und Events, wohin die Kinder hingehen können und sich die guten Eisläufer-innen anschauen können, und anschließend sagen – „Ich will das auch können!“ – sind toll! Da können die Kinder den Zugang zu unserer Sportart finden. Aber da müssen zunächst die Eltern hingehen wollen und den Wunsch haben, dass ihre Kinder solche Erlebnisse bekommen…
Ich weiß, dass die DEU jetzt eine Partnerschaft mit „Holiday on Ice“ hat. Könnte man sich vorstellen, bei einer Show ein Paarlauftalent zu entdecken?
Klar, da kann man auch gut Werbung machen. Es ist eine tolle Sache, aber wie meinst Du es genau? Dass wir da einen Stand aufbauen und Kinder ansprechen?
Nicht ganz. Ich war mehrmals bei der französischen Tournee (nicht von HoIday on Ice) mit der französischen Eiskunstlaufmannschaft unterwegs und in jeder Stadt durften Kinder aus diesen Städten zu Beginn der Show auf dem Eis laufen und sich dem Verband und dem Publikum präsentieren. So kann man mehr Kinder sichten, auf die man anders nicht aufmerksam wird oder übersieht sie…
Die Idee finde ich gut, nehme ich gerne mit!
Und am gleichen Tag durften diese Kinder an einem Training der Eiskunstlaufstars teilnehmen und von ihnen lernen!
Das kenne ich auch und ich weiß, dass Aljona und Bruno bei „Holiday on Ice“ solche Trainings mit Kindern angeboten und mitgemacht haben.
Genau! So gewinnen Kinder mehr Begeisterung für den Eiskunstlauf, wenn sie an der Seite dieser Stars trainieren und etwas üben… Was ist eigentlich bei einem Training mit den ganz Kleinen besonders zu beachten?
Du kannst mit den kleinen Kindern zum Anfang gar nicht so viel machen, z. B. Würfe würden nicht gelingen, aber das parallele Laufen, die Pirouetten sowie Schritte kann man mit ihnen bereits gut üben… Das geht, das funktioniert. Und je früher man damit anfängt, desto besser entwickelt sich später bei ihnen das Gefühl für den Partner, selbst wenn sie später den Partner oder die Partnerin wechseln, ist das Gefühl für Paarlaufen und für den Eistanz schon da.
Muss man wahrscheinlich auch viel mit den Eltern arbeiten?
Ja, die Eltern sind immer dabei. Als Trainer muss ich sie aufklären, was wir vorhaben und wo es hingehen könnte. Eine andere Frage ist, ob es überhaupt gewollt ist von den Eltern, denn das ist auch natürlich so eine Sache… Denn wir sprechen vom Paarlaufen und da haben Eltern oft Angst um ihre Kinder bzw. Töchter. Diese Ängste müssen wir ihnen durch diese Aufklärungsarbeit nehmen. Ich rede mit ihnen und erkläre, dass wir zuerst alle Elemente auf dem „Trockenen“ vorbereiten und viel üben, bevor wir damit aufs Eis gehen. Es ist schon sehr wichtig, auch die Eltern „abzuholen“ und sie zu beteiligen. Ohne sie geht es nicht.
Wie habt ihr die Coronazeit erlebt?
Wir hatten Glück! Wir hatten zwar keine Wettkämpfe, aber da wir an das Landeskadersystem angeschlossen sind, das schon relativ früh gegriffen hat, konnten bzw. durften alle Nachwuchspaare, die ich betreue, weiter aufs Eis gehen und trainieren.
Also kein Lockdown?
Doch, im März glaube ich, da hatten wir ein Monat lang kein Training gehabt, aber danach ging es direkt los: also nicht mit der Schule, aber mit dem Training.
Dann ist es gut! Ich dachte eigentlich, dass dadurch ein Jahrgang komplett verloren gegangen sein könnte.
Ja, das Problem besteht auch. Wir konnten bei den Einschulungen nicht sichten, wer dafür geeignet wäre, eventuell in eine Sportschule zu wechseln. Die Kinder, die bereits in einer Sportschule lernten, hatten weiterhin die Möglichkeit, zu trainieren, weil sie im Landeskader sind.
Ist es ein großer Unterschied, mit den erwachsenen bzw. erfahrenen Sportlern zu arbeiten als mit den Kindern?
Es ist anders. Beim Nachwuchs handelt es sich um die Aufbauarbeit. Mit den Kindern fangen wir mit dem „normalen Lernen“ an, wir entwickeln methodische Reihen, machen Übungen, bewegen uns von dem Kleinen zum Großen, vom Langsamen zum Schnellen… Wie gesagt, es ist eine Aufbauarbeit. Wenn man hingegen mit einem „großen“ Paar arbeitet, so wie ich jetzt mit Annika und Robert, da geht es eher um Coaching.
Was meinst Du damit?
Wir müssen jetzt nicht von früh bis spät an allen Elementen schleifen, um sie sauber zu zeigen, heißt: Ich sage nicht ständig – „Bitte macht jetzt noch einen Lutz oder wiederholt den Salchow“… Die Sportler kennen die Technik bereits sehr gut, die Elemente sitzen schon. Die Aufgabe besteht eher darin, die Sportler so entwickeln zu können, sie so zu coachen, dass sie zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt in der Lage sind, ihre optimale Leistung abzurufen. Und da jeder Sportler unterschiedlich ist, wir sind ja alle unterschiedlich, ist es eine Herausforderung, als Trainer das Paar so an die Wettkämpfe heranzuführen, dass die Sportler ihre höchste Leistung genau dort zeigen.
Dann wünsche ich viel Erfolg für Deine „großen“ und die ganz kleinen Sportler!
Danke!
Text: Alexandra Ilina, Oberstdorf
Titelfoto: Rico Rex mit Letizia Roscher und Luis Schuster (Privatarchiv)